zum buch
johannes stahl, der interaktive blick. über kunst, wirkungsräume und mitspieler
schreibt die kunstwissenschaftlerin ulrike schuster:
„der begriff der interaktiven kunst fungierte als eines der großen schlagwörter der jüngst vergangenen dekaden. ist mittlerweile jedoch selbst – wie es der klappentext formuliert – ,in die jahre gekommen’. die zeitliche distanz hat jedoch ihr gutes, denn aus der ferne mag der überblick oft leichter gelingen. johannes stahl verspricht eine reiche kulturgeschichte hinter dem terminus und hält wort: die lektüre seines buches erweist sich als zugänglich, benutzerfreundlich und bringt einen großen zuwachs an neuen erkenntnissen.
man würde auf grund des titels ein schwieriges, theorielastiges werk vermuten und wird von den ersten seiten weg angenehm überrascht. der kunsthistoriker johannes stahl ist ein enzyklopädisch bewanderter vielwissender, der aus dem vollen schöpft und trotzdem mit erfrischender leichtigkeit von gegenstand zu gegenstand eilt. er schlägt seinen bogen bewusst sehr weit, nicht immer stringent am thema, aber auch niemals beliebig. ein geschlossenes theoriegebäude erwächst daraus nicht, aber eine geist- und aufschlussreiche bestandsaufnahme.
im zentrum des diskurses steht eine annäherung an das phänomen der interaktiven kunst. sie wurde, entgegen der heute weitverbreiteten meinung, nicht erst von den neuen medien ins leben gerufen und ist noch nicht einmal ein kind der moderne. anlass genug, um das thema fernab der gängigen klischees zu behandeln, und stahl scheut nicht davor zurück, die stehsätze der zeitgenössischen kunsttheorie in frage zu stellen.
so verweist er auf ein häufiges paradoxon im zusammenhang mit interaktiven kunstaktionen: die partizipation des publikums ist teil des konzepts, gleichzeitig aber fast immer mit äußerst konkreten regieanweisungen an die handelnden verbunden. den betrachter autonom am zustandekommen zu beteiligen, so stahl, sei trotz vieler beteuerungen und berufungen auf den prozess der interaktivität eine seltene übung geblieben. ein gänzlich anderes dilemma ergebe sich jedoch, wenn die angestrebte interaktion nicht im erwünschten sinn in gang kommt, wenn kunstinstallationen keine akzeptanz finden oder schlichtweg nicht benutzt werden. stellt das scheitern des prozesses in solchen fällen auch ein scheitern in der form dar? stahl wagt es immerhin, diese frage in den raum zu stellen, die antwort ist nicht einfach zu geben.
interaktive kunst fügt sich zudem nicht immer problemlos in den geschlossenen raum eines museums oder einer sammlung. nicht selten werden die optionen zur publikumsbeteiligung im musealen rahmen stark eingeschränkt, sei es aus sorge vor abnutzung oder beschädigung, oder auch nur auf grund von fehlenden personalkapazitäten bei der aufsicht. der ursprünglichen intention des kunstwerks können solche zugangsbeschränkungen jedoch durchaus diametral entgegenstehen.
was aber hat es mit dem vielbeschworenen publikum auf sich? stahl verwirft die vorstellung einer homogenen, indifferenten masse zugunsten einer detaillierten auffächerung der mitspielerschaft. er betrachtet die wechselwirkungen zwischen künstlern und ihren auftraggebern, kuratoren oder auch kritikern. ein weites feld stellt die kommunikation von künstlerkollegen unter sich dar: sie kann bekanntlich von fruchtbarer korrespondenz und gegenseitiger befruchtung bis zu erbittertster konkurrenz reichen, mit weitreichenden auswirkungen auf künstlerische prozesse.
der schwierigste kontrahent des künstlers ist und bleibt jedoch die öffentliche meinung; es geht um ein äußerst ambivalentes verhältnis, das einerseits geprägt ist von misstrauen gegenüber der „unverständigen“ menge, andererseits vom versuch, das publikum als partner für sich zu gewinnen. noch einmal wirft stahl in den letzten kapiteln die netze weit aus und begibt sich in reflexionen über die erwartungshaltungen der öffentlichkeit, die sich zuweilen hartnäckig jenen der institutionellen kunstvermittlung widersetzten, über das für und wider von blockbusterausstellungen oder die schwierigkeiten im zusammenhang mit kunst am bau.
vergnüglich ist die betrachtungsweise des autors, die locker über die grenzen von generationen und epochen hinweg schweift, sowie das oszillieren zwischen unterschiedlichen kunstgattungen. neben den bildenden künsten, der musik und dem schauspiel bezieht stahl sein anschauungsmaterial auch aus den „niederen“ künsten, der karikatur und der satire, der analytischen betrachtung von künstleranekdoten oder gesellschaftsspielen aus vergangenen tagen, wie etwa der anfertigung von nagelskulpturen oder dem nachstellen von lebenden bildern.
ganz nebenbei ergibt sich im rahmen der lektüre ein profunder überblick über das bewegte avantgardistische kunstgeschehen seit 1945. immer wieder aufs neue ist man in diesem zusammenhang verblüfft über die kühne kompromisslosigkeit der künstlerinnen und künstler der 1950-er und 1960-er jahre, deren aktionen bis heute kaum etwas von ihrer anarchistischen frische eingebüßt haben.
vor allem aber wird auch der blick auf die aktuelle gegenwartskunst dadurch ein wenig pragmatischer: zwar haben im zuge der modernen technologien enorme veränderungen im bereich der technischen mittel stattgefunden. inhaltlich bewegt sich vieles jedoch auf einem durchaus vertrauten terrain.”
erschienen im portal kunstgeschichte
herausgegeben von bettina preiß vdg verlag und datenbank für geisteswissenschaften weimar
alle rechte bei ulrike schuster und portal kunstgeschichte / vdg weimar
hier veröffentlicht mit freundlicher genehmigung durch autorin und herausgeberin
original http://www.portalkunstgeschichte.de/meldung/johannes-stahl-der-interaktive-blick-ueber-kunst-wirkungsraeume-und-mitspieler-postparadise-edition-2013-6339.html
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